Wohnst du noch oder störst du schon?

Es gibt im Wohnungseigentumsrecht keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass die Wohnnutzung die intensivste Form des Gebrauchs von Sondereigentum ist. Stets kommt es auf den konkreten Einzelfall an. Jetzt entschied der Bundesgerichtshof (BGH) einen Fall, der über das Landgericht Landau i. d. Pfalz zu ihm gelangte. Es ging um eine Gemeinschaft, in deren Teilungserklärung/Gemeinschaftsordnung (TE/GO) eine räumliche Trennung von Wohnen und Gewerbe verankert war.

Das Urteil vom 15. Juli 2022 zum gerichtlichen Aktenzeichen V ZR 127/21 ist ein weiteres Teil im immer größer werdenden Puzzle der zweckbestimmungswidrigen Nutzung von Sondereigentum. Es ging um einen Übergangsfall. Für den Verwalter ist der Fall bedeutsam, weil durch seinen schriftlichen Widerspruch an das Gericht eine bis dahin zulässige und begründete individuelle Störungsabwehrklage eines Wohnungseigentümers unzulässig und/oder unbegründet werden kann.

Der Fall
Die Parteien sind Mitglieder einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer (GdWE). Die Anlage besteht aus zwei Baukörpern mit 14 Einheiten (Haus A und B). Im Dachgeschoss beider Häuser befinden sich jeweils 2 Wohnungen, während die restlichen 10 Einheiten (5 je Haus) nicht zu Wohnzwecken dienen. Die Klägerin ist Wohnungseigentümerin einer Einheit im Haus A, den Beklagten gehört eine Teileigentumseinheit im Haus B. In § 2 TE/GO ist zur Nutzung der Einheiten Folgendes vereinbart:
„4.  Wohnungen und die dazugehörigen Nebenräume dürfen nur zu Wohnzwecken benutzt werden. Die Ausübung eines Berufs oder Gewerbes in der Wohnung bedarf der schriftlichen Zustimmung des Verwalters. Der Verwalter kann die Zustimmung mit Auflagen verbinden. Im Übrigen kann die Zustimmung nur verweigert werden, wenn mit der Ausübung des Berufs oder Gewerbes erfahrungsgemäß eine erhebliche Belästigung der übrigen Wohnungseigentümer/Teileigentümer oder eine erhöhte Abnutzung der im gemeinschaftlichen Eigentum stehenden Gebäudeteile verbunden oder zu befürchten ist.
(…)

7.   Die nicht für Wohnzwecke bestimmten, gewerblich nutzbaren Räume dürfen als Büro, Praxis, Apotheke, Kiosk, Laden oder ähnliche Zwecke genutzt werden. Die Nutzungsart muss der übrigen Nutzung des Gebäudes angepasst sein und darf durch die Art ihres Betriebs andere Wohnungs/Teileigentümer und Dritte nicht gefährden oder belästigen, sei es durch übermäßigen Lärm, Geruch, Dünste oder Unsauberkeit oder sei es durch Einbringung gesundheitsschädigender oder gefährlicher, insbesondere explosiver Gegenstände.“
Die Beklagten betrieben in ihrem Teileigentum eine Zahnarztpraxis mit angeschlossenem Labor. Im Jahr 2018 bauten sie die Praxis zu Wohnzwecken um und informierten den Verwalter, nicht aber die Klägerin. Seither wird die Einheit als Wohnung genutzt. Die Klägerin hat mit der im Jahr 2019 erhobenen Klage die Unterlassung der Wohnnutzung der Teileigentumseinheit verlangt. Das Amtsgericht Neustadt a. d. Weinstraße hat die Klage abgewiesen, das Landgericht Landau i. d. Pfalz gab ihr statt und ließ die Revision zu. Mit der Revisionsbegründung ihres BGH-Rechtsanwalt haben die Beklagten ein Schreiben des Verwalters eingereicht, wonach die GdWE der weiteren Rechtsverfolgung durch die Klägerin widerspricht. Daraufhin hat die Klägerin den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Die Beklagten sind der Erledigungserklärung entgegengetreten.

Die Entscheidung
Der BGH wies die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurück, dass festgestellt wurde, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache ist und die Beklagten die Kosten tragen.
Der BGH folgt dem Landgericht darin, dass nach den Vereinbarungen in § 2 TE/GO der gemischt genutzten Immobilie mit räumlicher Trennung von Gewerbe und Wohnen die Nutzung des Teileigentums zu Wohnzwecken zweckbestimmungswidrig ist und nach der maßgeblichen typisierenden Betrachtungsweise mehr stört als die erlaubte, zweckbestimmungsgemäße Nutzung als „Büro, Praxis, Apotheke, Kiosk, Laden oder für ähnliche Zwecke“. Die Unterlassungsklage sei bis zum Eingang der Revisionsbegründung, der der schriftliche Widerspruch des Verwalters für die GdWE beigefügt war, zulässig und begründet gewesen. Dann allerdings sei sie unzulässig geworden, da die Prozessführungsbefugnis der Klägerin entfallen sei.

Fazit für Wohnungseigentümer oder Verwaltungsbeiräte
Für die Klägerin war der schriftliche Widerspruch ärgerlich. Ein Trost liegt darin, dass die Kosten des Rechtsstreits von den Beklagten zu tragen sind und durch die Ausführungen von LG und BGH geklärt sein dürfte, dass ein Unterlassungsanspruch besteht. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die GdWE, falls erforderlich, eine neue Unterlassungsklage gegen die Beklagten zu erheben. Lehnt die Gemeinschaft dies in einer Eigentümerversammlung ab (Negativbeschluss), kann hiergegen Beschlussersetzungsklage erhoben werden, um die erneute gerichtliche Auseinandersetzung in die Wege zu leiten. Ein Unterlassungsanspruch bezüglich der zweckbestimmungswidrigen Nutzung unterliegt keiner Verjährung, sondern entsteht durch die störende Nutzung jeden Tag aufs Neue. Anders verhält es sich bei Beseitigungsansprüchen auf Rückbau und Wiederherstellung, die vorliegend allerdings nicht streitgegenständlich waren und auch nicht zweckmäßig erscheinen, um die beanstandete Störung erfolgreich zu beheben. Das zur Wohnung umgebaute Teileigentum kann ggfls. leer stehen.

Bei der Auslegung von Vereinbarungen in der GO geht es um die Abgrenzung zwischen einer rechtsverbindlichen Zweckbestimmung mit Vereinbarungscharakter auf der einen Seite und einem bloßen, unverbindlichen Nutzungsvorschlag auf der anderen Seite. Es ist nachvollziehbar, dass angesichts der ausführlichen Regelung eine klare und eindeutige Zweckbestimmung angenommen wurde. Auch ist es bei unbefangener Betrachtung naheliegend, dass die Zahnarztpraxis („Praxis“) und das angeschlossene Labor („…oder ähnliche Zwecke“) der erlaubten Nutzungsart des Teileigentums entsprachen. Alle für die Teileigentumseinheiten aufgelisteten erlaubten gewerblichen Nutzungsarten haben gemeinsam, dass sie werktags über innerhalb üblicher Geschäftszeiten stattfinden, also nicht an Wochenenden, Feiertagen oder zu Abend-/Nachtzeiten.

Fazit für die Gemeinschaft
Juristisch genau betrachtet ist es nicht der Verwalter, der der individuellen Prozessführung des einzelnen Eigentümers widerspricht, sondern die GdWE. Der Verwalter ist kraft seiner Bestellung ihr Vertretungsorgan. Daher kann und darf der Verwalter nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, ob er widerspricht oder nicht und welche Folgen er hierdurch für die GdWE auslöst. Eine Beschlussfassung muss der Verwalter nicht herbeiführen. Allerdings sollte er bedenken, dass die GdWE in der Folge die Anspruchsverfolgung „an der Backe hat“. Es könnte also sein, dass zeitnah bzw. unverzüglich der streitige Anspruch durch die GdWE geltend gemacht werden muss, falls nötig also auch durch eine weitere Unterlassungsklage, die wieder vor dem Amtsgericht startet.
Ist das Verwalteramt unbesetzt, wird die Gemeinschaft von allen Eigentümern gemeinschaftlich vertreten. In solchen Fällen wird also deren schriftlicher Widerspruch zur Prozessführung ausreichen, wobei die Willensbildung ebenfalls einem Beschlusserfordernis unterliegen dürfte.

Wie wäre es nach dem neuen WEG 2020 (WEMoG)?
Nach der neuen Gesetzeslage ist jeder Wohnungseigentümer gemäß § 14 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 2 WEG (anders als nach § 15 Abs. 3 WEG alte Fassung [aF]) gegenüber der GdWE verpflichtet, die Vereinbarungen aus der Gemeinschaftsordnung einzuhalten. Anspruchsinhaberin ist die GdWE. Juristen sprechen von der Aktivlegitimation. Als Anspruchsinhaberin steht der GdWE außerdem das Recht zu, den Anspruch einzuklagen. Juristen sprechen von der Prozessführungsbefugnis. Nach überwiegender Ansicht ist es zulässig, wenn die GdWE einen oder einzelne Wohnungseigentümer zur individuellen Prozessführung ermächtigt, sei es auf gemeinschaftliche Kosten, sei es – im Einverständnis mit den ermächtigten Wohnungseigentümern – auf deren eigene Kosten.

Die Wohnungseigentümer haben individuelle Störungsabwehransprüche aus § 1004 BGB, die sie in Bezug auf das gemeinschaftliche Eigentum aber nur noch dann allein geltend machen können und dürfen, wenn der räumliche Bereich ihres Sondereigentums tatsächlich beeinträchtigt wird, beispielsweise durch Gerüche/Gestank, Lärm, Verschattung, Blickversperrung, Blendung (Reflektion) etc.

Dr. Jan-Hendrik Schmidt 
W·I·R Breiholdt Nierhaus Schmidt 
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte PartG mbB Hamburg 
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